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Philosoph im Weltkäfig

Dem Romancier Milan Kundera zum siebzigsten Geburtstag

Die Pariser Buchhändler haben es schwer mit ihm. Denn in Frankreichs Buchhandlungen herrscht Ordnung. Nicht nur ist dort alles schön nach dem Alphabet sortiert, sondern zusätzlich noch nach Sprachen und Ländern getrennt. Damit stellt sich die Frage, wo denn nun Kundera zu finden sei. In manchen Geschäften stehen seine Bücher, irgendwo zwischen Kessel und Larbaud, unter den einheimischen Autoren, andere stellen ihn, zwischen Hrabal und Màrai, ins Regal der „östlichen“ oder „mitteleuropäischen“ Literatur, und gelegentlich muss man sich Kunderas Bücher im selben Geschäft sogar aus beiden Regalen zusammensuchen. Verständlich ist das durchaus. Denn Milan Kundera, heute vor siebzig Jahren in Brünn geboren, ist natürlich ein tschechischer Autor, aber er lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Paris, und seit Beginn der achtziger Jahre schreibt er alle seine Werke auf französisch. Er könnte sich also ebenso gut als französischen Schriftsteller bezeichnen. Aber er tut es nicht.

Gegen die übliche Ansicht, zu jedem Menschen gehöre automatisch irgendeine Sprache, hat Milan Kundera sich leidenschaftlich zur Wehr gesetzt. Er wolle trotz aller Liebe zur Heimat und trotz aller dankbaren Verehrung für Frankreichs Kultur keinem Land und keiner Sprache allein „gehören“. Die Aufkündigung dieser Zugehörigkeit sei ein Beweis von Freiheit, und sein Vorbild seien „Nomaden“ wie Chopin und Beckett, Strawinsky und Gombrowicz, die in mehreren Ländern zu Hause waren und keinem ganz gehörten. Ebenso heftig hat Kundera gegen die Unterstellung protestiert, sein Werk hätte sich durch die Emigration wesentlich geändert. Er will nicht als Autor gelten, der dadurch berühmt wurde, dass er das absurde Leben in der Diktatur dargestellt habe und dem im Westen allmählich sein großes Lebensthema abhanden gekommen sei. Die historische Situation sei niemals sein Thema gewesen. Dabei handle es sich nur um einen Käfig, in dem die Menschen eingesperrt seien, die sich ohnehin allesamt im Käfig ihres Ichs, ihrer Identität befinden. Das Thema seiner Bücher sei immer nur gewesen, wie die Insassen des Käfigs sich verhielten und dabei sich selbst erlebten.

Kunderas Bücher sind voll von intelligenten Beobachtungen zur „condition humaine“. Der Schriftsteller scheut sich nicht, die sichtbare Welt zu beobachten und seine Entdeckungen auf belehrende Formeln zu bringen. Er hält das Menschenwesen ‘überhaupt keineswegs für ausgeforscht, unentwegt entdeckt er an unserem Verhalten, aber auch an den Spielregeln unserer Kultur Details, die bislang noch niemand wahrgenommen hat und die er mit dem Stolz des Pädagogen — seit 1975 unterrichtet er Literaturwissenschaft — in seine Bücher streut. Seine Beobachtungen sind psychologischer, soziologischer, ästhetischer Natur und dennoch niemals Beiträge zum Begriffssystem einer dieser Wissenschaften. Dazu denkt Kundera zu unabhängig, zu unsystematisch, zu punktuell. Er ist nicht einmal ein Aphoristiker wie Canetti, pointenhafte Zuspitzung ist ihm fremd.

Kundera kommentiert seine Figuren, er kommentiert auch den Gang seiner Romanhandlungen und damit sich selbst. Das ist seine Art von Ironie. Sie bedeutet Distanz, bleibt aber frei von Humor. Absurd ist bei Kundera nur der Gegenstand, die Form ist todernst. Kundera denkt in der Tradition der Moralisten des achtzehnten Jahrhunderts, was ihn trotz aller Unterschiede dann doch in die Nähe Canettis rückt. Wie dieser nimmt er den Leser selbst beim Erzählen nicht durch epische Qualitäten gefangen, sondern durch originelle Blickwinkel und intelligente Präzision.

Es gibt bei Kundera eine Fülle herrlich lebenskluger Beobachtungen. Dass sich an der Architektur New Yorks eine von den Erbauern völlig unbeabsichtigte „Zufallsschönheit“ offenbare, ist eine Feststellung Kunderas, die manchem Kunstfreund den Atem stocken ließ, so viel folgenreicher, weil übertragungsfähiger ist diese scheinbar geringe Erkenntnis als das meiste dessen, was heute lautstark über moderne Kunst gedacht wird. ‘Und welches Menschenbild spricht aus der fast beiläufig entfalteten These, der euphorische Harmonisierungsdrang des Menschen entspringe einem angeborenen „Schönheitssinn“, der eine Haupttriebkraft des Menschenlebens sei. Oder die paradoxe Feststellung zum Schamgefühl, die er in seinem jüngsten Roman, „Identität“, äußert: dass der Mensch die delikaten Partien des Körpers nicht etwa verberge, weil sie so individuell seien, sondern weil sich dort das Allgemeine offenbare. Überspitzt gesagt: Nacktheit lässt den Schwindel der Individualität auffliegen, deshalb fürchten wir uns so davor.

Als sich Kundera während der sowjetischen Besetzung Prags zum Schreiben zurückzog, wurde der Roman seine Form des Überlebens, er wurde seine Rettung. Seither stattet Kundera diesem Genre seinen Dank ab. Der Roman, so erklärt er immer wieder, sei nicht irgendeine literarische Form neben anderen, sondern die abendländische Literaturform schlechthin, ein kostbares Instrument der menschlichen Selbsterforschung, das keine feste Definition verträgt. Er ist ein ebenso universelles Medium wie die Symphonie. Nur noch als Verfasser von Romanen will Kundera gesehen werden — und von zwei Bänden mit Essays, die, wen wundert‘s, von der Kunst des Romans handeln.

Die Kundera-Gemeinde gibt es noch immer. In Frankreich merkt man es, wenn ein heuer Titel erscheint und mit seiner knallroten, marktschreierisch breiten Bauchbinde auf den Büchertischen liegt. Nur zwei Namen stehen auf der Binde, ganz klein der des Verlegers Gallimard und darüber in riesigen Lettern sein Name, wie ein Markenzeichen. Für viele ist es das auch, wenngleich die Zeiten vorerst vorbei sind, da er als Kandidat für den Literaturnobelpreis galt. Ob er noch einmal so populär wird wie damals, 1968, als sein erster Roman „Der Schmerz“ ihn bekannt machte oder gar wie später, 1984, als er durch die „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ weltberühmt wurde, ist fraglich. Denn Kundera, auch wenn er es nicht wahrhaben will; hat sich durch seine Einbürgerung in die französische Literatur allmählich doch gewandelt. Mit der Sprache hat er auch das literarische Ideal gewechselt.

Der Verehrer von Kafka und Musil ist zum Schüler Diderots geworden, der in seinen neueren Büchern das realistische Fruchtfleisch fast völlig wegschneidet und gleich zum parabelhaften Kern der Sache kommt. „Die Identität ‚ sein jüngster Roman, ist ein solches Buch geworden, ein philosophischer Roman ganz ohne Philosophie, kaum mehr als der Dialog zwischen zwei Menschen, die sich am Schluss aneinanderklammern, weil ihnen das zerbrechliche Gehäuse der Identität zu zerspringen droht. Meisterhaft nutzt Kundera eine Eisenbahnfahrt durch den Kanaltunnel, um die Realität in Phantasie übergehen zu lassen; ein paar Sätze genügen ihm schließlich, um am Ende die Realität wieder in ihr Recht einzusetzen. Nachlassende Kräfte sind das nicht. Es ist Altersstil, karg, weise, wesentlich. Dass solche Kunst nur noch wenig verstanden wird, weiß er vom Beispiel Fellinis. Dessen vergleichsweise kargen Spätwerke hält Kundera für die besten. Dass aber Kunst das Publikum um so weniger interessiert, je wahrer sie ist, gilt ihm als erschreckendes Merkmal unserer Epoche, die ja auch durch die erschreckenden Wahrheiten von Heideggers Philosophie sich nicht hat erschrecken lassen. Kundera ist einsam geworden und hat sich dazu in allerbeste Gesellschaft begeben.

 

Quelle: Wilfried Wiegand in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 1.4.1999