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Wir schreiben ständig unsere Biographien um

Aus einem Gespräch zwischen Ian McEwan und Milan Kundera

McEwan: Es war interessant für mich, im letzten Teil Ihres Romans Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins eine ganz neue Einstellung zum Paradies zu finden. Die Heldin Teresa hat sich mit ihrem Mann Tomas und dem Hund Karenin aufs Land zurückgezogen. Sie schreiben: »Der Vergleich zwischen Karenin und Adam bringt mich auf den Gedanken, dass der Mensch im Paradies noch nicht Mensch war. Genauer gesagt: der Mensch war noch nicht auf die Bahn des Menschseins geschleudert. Wir aber sind längst auf dieser Bahn und fliegen durch die Leere der Zeit, die auf einer Geraden abläuft.« Einige Zeilen weiter schreiben Sie über die Gefahr, Tiere wie seelenlose Maschinen zu behandeln: »Der Mensch schneidet auf diese Weise den Faden durch, der ihn mit dem Paradies verbindet, und nichts wird ihn aufhalten, nichts wird ihn trösten können auf seinem Flug durch die Leere der Zeit.« Dieses Paradies ist es also wert, dass man an ihm festhält. In was für einer Beziehung steht es zu jenem geistlosen Paradies, der politischen Utopie, die Sie an anderer Stelle so verächtlich beschreiben?

Kundera:  Teresa sehnt sich nach dem Paradies. Letzten Endes ist das ein Verlangen danach, nicht Mensch zu sein.

McEwan: Aber der Mann, der enthusiastisch im Kreis tanzt, sich im Kreise dreht in diesem geistlosen Paradies — hat er nicht auch aufgehört, Mensch zu sein?

Kundera: Fanatiker hören nicht auf, Menschen zu sein. Fanatismus ist menschlich. Faschismus ist menschlich. Kommunismus ist menschlich. Mord ist menschlich. Das Böse ist menschlich. Genau deswegen sehnt sich Teresa nach einem Zustand, in dem der Mensch nicht Mensch ist. Das Paradies der politischen Utopie beruht auf dem Glauben an den Menschen. Darum endet es in Massakern. Teresas Paradies beruht nicht auf dem Glauben an den Menschen.

McEwan: Gegen Ende des Romans entwickeln Sie Ihre Gedanken zum Thema Kitsch. Sie verstehen unter Kitsch also mehr als einen schlechten Geschmack?

Kundera: Ja, viel mehr. Ich benutze das Wort, das erstmals im 19.Jahrhundert in München verwendet wurde, in seiner ursprünglichen Bedeutung. Deutschland und Mitteleuropa waren im 19. Jahrhundert romantisch — mehr romantisch als realistisch. Und sie produzierten Kitsch in unvorstellbaren Mengen. Das 19. Jahrhundert ist das erste Jahrhundert ohne eigenen Stil. Alle möglichen Stilarten wurden imitiert, vor allem in der Architektur: Renaissance, Barock, Gotik, alles zugleich. Herman Broch hat einen herrlichen Essay geschrieben mit dem Titel: »Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches«, in dem er folgende Frage stellt: War das 19.Jahrhundert nicht eher das Jahrhundert des Kitsches als das der Romantik? Broch versteht unter Kitsch eine Art absoluten künstlerischen Opportunismus, dem alle Mittel recht sind, um das Publikum zu bewegen. Kitsch als Eklektizismus mit einem einzigen Gebot: es muss gefallen. Die großen Romantiker waren Broch zufolge Ausnahmen in einem Meer von Kitsch. Für Broch sind z. B. Wagner und Tschaikowsky Kitsch.

McEwan: Sie haben geschrieben: »Kitsch ist das ästhetische Ideal aller Politiker, aller politischen Parteien und Bewegungen.« Für Sie besteht die Funktion des Kitsches darin, den Tod zu verdecken. Bedeutet das, dass Politik ohne Kitsch unvorstellbar wäre?

Kundera. Meiner Ansicht nach ist Politik — auf der Ebene der politischen Parteien, der Wahlen, also der modernen Politik — undenkbar ohne Kitsch. Er ist nicht zu umgehen. Die Aufgabe eines erfolgreichen Politikers besteht darin, zu gefallen, und zwar der größtmöglichen Anzahl von Leuten. Um das zu erreichen, muss er auf die Klischees zurückgreifen, die sie hören wollen.

McEwan: Wollen die Russen gefallen?

Kundera: Sie haben recht, die Russen haben die Macht und sind nicht darauf angewiesen, den Leuten zu gefallen, um an der Macht zu bleiben. Breschnew brauchte niemandem zu gefallen. Aber die Parolen der Partei, ihre Demagogie mit allem, was dazugehört: das soll gefallen. Das ist Kitsch im großen.

McEwan: Ortega y Gaset sagte, in ästhetischer Hinsicht seien Tränen und Lachen trügerisch.

Kundera: Ich kenne das Zitat zwar nicht, aber es ist wahr. Vor kurzem bekam ich einen Brief von einem schwedischen Leser ‚ in dem es hieß: »Aber sind Sie sich dessen bewusst, dass wir, wenn wir Sie akzeptieren, tatsächlich das beiseite lassen, was uns stört und damit Ihre Texte verkitschen? Als das Buch vom Lachen und vom Vergessen erschien, schrieben die Rezensenten nur über die Heldin, über Tamina. Das ist ein interessanter Teil des Buches, nicht schlechter als das Übrige. Aber dort kommt auch ein emotionales Motiv vor, das sehr leicht kitschig wirken kann: die Beziehung zwischen einer Frau und ihrem toten Mann, den sie immer noch liebt. Niemand hat auf den letzten Teil Ihres Buches hingewiesen! Und der Grund dafür liegt darin, dass man Sie verkitschen wollte.«

McEwan: Lassen Sie uns auf einen anderen Aspekt eingehen. Sind Sie der Meinung, dass der Schlüssel zu jeder menschlichen Beziehung in der sexuellen Beziehung liegt? Ist das, was sich zwischen Mann und Frau abspielt, ein Muster für alle menschlichen Beziehungen?

Kundera: Das weiß ich nicht. Es ist sicher eine sehr aufschlussreiche Situation, aber ich möchte nicht behaupten, dass Beziehungen zwischen Menschen nicht darüber hinausgehen.

McEwan : Ihr Ausgangspunkt ist immer eine Hochzeit eine Liebschaft. Es scheint bei Ihnen eine Art Obsession des ständigen Liebens zu geben.

Kundera: Ja, aber entweder deckt eine Liebesszene wesentliche Dinge auf, oder sie hat keinen Platz im Roman. Wenn meine Figuren sich lieben, sehen sie ganz plötzlich die Wahrheit über ihr Leben, über ihre Beziehung. Im Abschiedswalzer. B. sind sich Jakob und Olga ihrer Beziehung immer sicher gewesen. Auf einmal schlafen sie miteinander und ihre Beziehung wird unerträglich; unerträglich deshalb, weil während des Liebesaktes ein Gefühl von Mitleid aufkommt, und das ist eine unmögliche Basis für die Liebe. Im Scherz erkennen wir während der Liebesszene zwischen Ludwik und Helena plötzlich, dass nicht nur Ludwiks Sexualität, sondern auch sein Leben auf einem Rachegefühl basiert. Das ganze Buch ist auf dieser einen Liebesszene aufgebaut. Als Sabina in der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins mit Franz schläft, sicht sie ihn als Hundebaby, das an ihrer Brust saugt und trinkt. Sie sieht in ihm ein kleines Tier, das von ihr abhängig geworden ist und diese plötzliche Erkenntnis erfüllt sie mit Widerwillen. Auf einen Blick sieht sie die Wahrheit über ihre Beziehung.

McEwan: Die Identität Ihrer Figuren zeigt sich in deren Sexualität...

Kundera : Betrachten Sie z. B. Teresa in der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Ihr Problem ist ihre Identität, das Verhältnis zwischen Körper und Seele; ihre Seele fühlt sich in ihrem Körper nicht wohl. Das zeigt sich sehr deutlich in der Liebesszene mit dem Ingenieur. Auf einmal merkt sie, dass ihre Seele während des Aktes ganz weit weg ist und den Körper beim Liebesspiel beobachtet. Dieser Abstand erregt sie sehr; ihr Problem (das Thema, das sie verkörpert) kommt in der Liebesszene plötzlich zum Vorschein. In diesem Sinne erhellen die erotischen Szenen Figuren und Situationen.

McEwan: Roman und Filme, in denen das Private und das Politische in einer Situation analysiert werden können, sind immer reizvoll.

Kundera: Die gleichen Dinge, die in der hohen Politik stattfinden, ereignen sich auch im Privatleben. George Orwell hat eine Welt beschrieben, in der die politische Macht Geschichte umschreibt, entscheidet, was Wahrheit ist, was erinnert werden darf, was vergessen werden muss. Aber mich als Romancier interessieren andere Dinge. Mich interessiert vielmehr die Tatsache, dass jeder von uns, bewusst oder unbewusst, seine eigene Geschichte umschreibt. Wir schreiben ständig unsere eigenen Biographien um, geben den Dingen ständig einen anderen Sinn — unseren eigenen, den Sinn, der uns passt. Wir wählen aus und gestalten — greifen die Dinge heraus, die uns beruhigen und uns schmeicheln und streichen alles, was uns herabsetzen könnte. In diesem Sinne Geschichte umzuschreiben —auch und sogar in Orwells Sinn -‚ist also nicht unmenschlich. Im Gegenteil, es ist sehr menschlich. Die Leute sehen das Politische und das Persönliche immer als verschiedene Welten an, als ob jede ihre eigene Logik, ihre eigenen Regeln hätte. Dabei gleichen die Schrecken auf der großen Bühne der Politik — seltsam genug — den kleinen Schrecken unseres Privatlebens auf hartnäckige Weise.

McEwan :  Sie haben einmal gesagt, dass Ihrer Meinung nach die Aufgabe eines Romans darin bestehe, die »anthropologischen Skandale« aufzudecken. Was haben Sie damit gemeint?

Kundera: Ich habe über die Situation in totalitären Staaten gesprochen. Ich habe gesagt, dass für einen Schriftsteller alles, was dort passiert, kein politischer, sondern ein anthropologischer Skandal ist. Das heißt, ich betrachte die Dinge nicht in bezug auf das politische Regime, sondern in bezug auf die Frage: Wozu ist der Mensch fähig?

McEwan: Aber warum Skandal?

Kundera : Ein Skandal ist etwas, das uns schockiert; jeder spricht über die schockierenden Methoden der Bürokratie und des kommunistischen Systems, die den Gulag, politische Prozesse und stalinistische Säuberungsaktionen hervorgebracht haben. Das alles wird als politischer Skandal bezeichnet. Aber man vergisst die offensichtliche Tatsache, dass ein politisches System nie mehr ausrichten kann als die Menschen, die in ihm leben: Wären die Menschen unfähig zu töten, könnte kein politisches System einen Krieg führen. Ein System existiert in der Nähe der Grenzen dessen, was Menschen tun können. Es kann z. B. keiner vier Meter hoch in die Luft spucken, auch nicht, wenn das Regime es verlangt. Mehr als ein halber Meter ist nicht möglich. Oder so weit pissen! Selbst wenn Stalin es befiehlt, man kann es nicht. Aber man kann töten. Daher steht die anthropologische Frage die Frage danach, wozu der Mensch Fähig ist immer hinter der politischen.

McEwan: Ich habe den Eindruck, dass Sie dem Roman zutrauen, uns ein ganz spezielles Verständnis der Welt zu vermitteln, dass er Ihrer Meinung nach Einblicke gestattet, die keine andere Form der Darstellung bietet.

Kundera: Ja, ich glaube, dass der Roman etwas vermittelt, das auf keine andere Weise gesagt werden kann. Aber es ist sehr schwer zu bestimmen, was das genau ist. Vielleicht kann man das Problem von der entgegengesetzten Seite her angehen, indem man z. B. sagt: es ist nicht die Absicht des Romans, die Gesellschaft zu beschreiben, weil es sicher bessere Möglichkeiten gibt, dies zu tun. Der Roman will auch nicht die Geschichte beschreiben, denn das ist die Aufgabe der Geschichtsschreibung. Romanschriftsteller sind nicht dazu da, den Stalinismus anzuprangern: das besorgt Solschenizyn in seinen Proklamationen. Aber der Roman ist die einzige Möglichkeit, die menschliche Existenz in allen ihren Aspekten zu beschreiben, zu zeigen, zu analysieren, herauszuschälen. Mir ist keine andere intellektuelle Anstrengung bekannt, die dieser Leistung des Romans gleichkäme. Nicht einmal die existentialistische Philosophie. Das besondere des Romans ist seine Skepsis, die er grundsätzlich gegen alle Gedankensysteme hegt. Er setzt als Prämisse voraus, dass es grundsätzlich unmöglich ist, (1w menschliche Existenz in irgendeine Art von System einzupassen.

McEwan:  Ein charakteristischer Zug Ihrer Prosa ist die Präsenz des Autors; er tritt auf wie ein Chor, der das Verhalten und die Motive der Figuren hinterfragt und kommentiert. Diese Stimme taucht im Scherz auf, und auch in den letzten beiden Romanen ist sie sehr präsent. Genügen die Techniken des traditionellen Romans mit dem unsichtbaren Autor für Ihre Zwecke nicht mehr?

Kundera: Wie gesagt, der Wert des Romans liegt für mich in der Art, wie er das Wesentliche einer Situation erfasst. Er schildert nicht nur Zustände — Eifersucht meinetwegen oder Zärtlichkeit, oder das Streben nach Macht — er hält diese Zustände auch fest, muss selbst innehalten, beobachtet sie genau, denkt über sie nach, stellt ihnen Fragen, verhört sie und versteht sie als Rätsel. Wenn bestimmte Situationen einmal zum Rätsel geworden sind, muss man anfangen, über sie nachzudenken. Nehmen wir z. B. die Eifersucht. Sie ist etwas so Alltägliches, dass jede Erklärung überflüssig erscheint. Aber das ändert sich, wenn man innehält und beginnt, darüber nachzudenken. Warum ist es unerträglich, zuzusehen, wenn eine Frau mit einem anderen Mann schläft? Plötzlich wird das Alltägliche schwierig, verwirrend, rätselhaft. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass der Romanautor es darauf anlegt, das Zweideutige darzustellen, weil im täglichen Leben so vieles uninteressant und trivial geworden ist. Ich muss in einem Roman eine denkende Stimme hören, aber nicht die eines Philosophen. Die Methode des Romanschriftstellers besteht darin, immer weiter vorzudringen, bis zum Kern des Problems, ohne je eine Lösung anzubieten.

McEwan:  Sie bemühen sich sehr, Ihren Figuren keine »Psychologie« zu geben — und in der Tat steht Ihr Werk in ziemlichem Gegensatz zum psychologischen Roman. Sie halten oft ein, um uns daran zu erinnern, dass Ihre Figuren bloße Erfindungen sind. Und dennoch gelingt es Ihnen paradoxerweise, sie sehr real erscheinen zu lassen. Das liegt wohl daran, denke ich, dass Ihr aufdringlicher Erzähler über die Figuren so redet, wie scharfsinnige Leute über einen guten Freund. Ihre Zwischenbemerkungen sind sozusagen gehobener Klatsch. Und das vermittelt uns den Eindruck, dass die Figuren wirklich existieren.

Kundera: Ja, das stimmt. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, alles über meine Figuren zu wissen. Das kann ich nicht, genauso wenig wie ich beanspruchen kann, alles über einen Freund zu wissen. Ich schreibe auf einer hypothetischen Ebene. Es ist das gleiche wie mit Freunden. Selbst wenn man von seinem besten Freund spricht — und alles erzählt, was erzählt werden kann —‚bleibt die Beobachtung eine Hypothese.

McEwan: Hat Ihre Bewunderung für Kafka Sie zu der Bemerkung veranlasst, der Roman untersuche das Leben in der Falle, die unsere Welt geworden ist?

Kundera: Ja, der moderne Roman untersucht die Falle, zu der unsere Welt geworden ist. Die Geschichte des Romans ist ein Spiegel der Geschichte der Menschheit, aber irgend etwas ist passiert, als Kafka kam — etwas, das immer noch nicht richtig erkannt worden ist. Meistens wird der moderne Roman von dem Dreigestirn Joyce, Proust und Kafka vertreten. Aber mir ist es immer so vorgekommen, als seien Proust und Joyce die Erfüllung, der Abschluss eines langen Entwicklungsprozesses, der bis Flaubert zurückreicht. Mit Kafka und möglicherweise mit Broch und Musil beginnt etwas ganz anderes. Bis zu Kafka kämpfte der Mensch gegen das Ungeheuer in seinem Innern, gegen das Ungeheuer, das sein Innenleben, seine Vergangenheit, seine Kindheit und seine Komplexe beherrschte. Bei Kafka kommt das Ungeheuer zum ersten Mal von außen: die Welt wird als Falle empfunden. Der Mensch wird von der Außenwelt bestimmt: von der Macht im »Schloss«, von der Macht des unsichtbaren Gerichts im »Urteil«. In meinen Büchern ist es die Geschichte, die den europäischen Menschen einfängt. Welche Möglichkeiten gibt es in einer Welt, die für uns zu einer Falle geworden ist? Was für eine Wahl können wir treffen? Welche Lebensformen gibt es? Letzten Endes macht es keinen Unterschied, ob K. einen Oedipus-Komplex hat oder auf seinen Vater fixiert ist, es ändert sein Schicksal nicht im geringsten. Aber das Schicksal einer Proust-Figur würde dadurch vollkommen verändert. Die Welt von Proust oder Flaubert war offen. Die Geschichte war unsichtbar. Sie war sogar etwas Unfassbares. Für uns ist Geschichte konkret, greifbar. Sie ist der Krieg. Sie ist ein politisches Regime. Sie ist das Ende Europas. Sie ist absolut fassbar— und zufassend —‚ und wir sind mitten darin: gefangen. Daher die Falle.

McEwan:  Sie haben einmal von der Einsamkeit gesprochen, die in Kafkas Figuren zerstört wird.

Kundera: Ja. Man ist von einer Gemeinschaft umgeben — und das war Kafkas Alptraum —‚in der die Einsamkeit bis auf den Grund zerstört und niedergemacht wird. jeder kann einen sehen, man ist nie allein. Kafka wird immer noch nach den gleichen Kriterien interpretiert, wie die Generation vor ihm. Das ist so, als legte man an Beethoven die gleichen Maßstäbe wie an Haydn an. Auf Kafka wird immer noch das romantische Klischee der Einsamkeit angewendet: der Mensch wird von der Einsamkeit bedroht, Einsamkeit ist ausschließlich negativ, die Tragödie des Intellektuellen besteht darin, dass er nicht mehr im Volk verwurzelt ist. Und so wird Kafka selbst zum Autor, der an der Einsamkeit leidet, der nach Gemeinschaft sucht, nach Brüderlichkeit, der seinen Platz in der Welt finden möchte — und das alles, obwohl er gerade dieses Klischee auf den Kopf gestellt hat. In der Tat ist Kafkas Welt vollkommen anders. Der Landvermesser im »Schloss« langweilt sich und ist seiner Umwelt überdrüssig. Er sucht nicht die Brüderlichkeit, sondern eine Arbeit. Aber er wird nur belästigt, von jedem. Und beobachtet. Er teilt das Bett mit seinen Gehilfen, und weil sie immer um ihn herum sind, kann er nicht mit Frieda schlafen. Bei Kafka finden nur diejenigen ihren Platz in der Gesellschaft, die auf ihre Einsamkeit verzichten und damit auf lange Sicht ihre Persönlichkeit aufgeben.

Was bedeutet nun Brüderlichkeit? Kafka stellt den Begriff auf den Kopf. Brüderlichkeit wird etwas Verhasstes, Schreckliches, Bedrohliches. Kafka zieht einen der unumstrittensten Gedanken der Gesellschaft in Zweifel. Und genau das ist die Aufgabe des Romanautors: ständig die grundlegenden Werte anzuzweifeln, auf die sich unser wirkliches Leben stützt.