Ich stand am Fenster und dachte über diesen Roman nach. Worüber würde ich ihn schreiben? Jeder Schriftsteller
(und ich bin augenscheinlich einer) hat dieses Problem. Die Charaktere in einem Roman sind wie Fliegen in einem Topf voller Honig; es ist wesentlich einfacher die Fliegen anzulocken, als den Topf zu füllen.
Ich sah
aus dem Fenster in die trübe Morgenluft und dachte über diesen Roman nach, als ich jemand laut die Toilettenschüssel spülte. Vielleicht war es das schüchterne junge Mädchen aus dem Apartment nebenan. Ich werde sie Maria
nennen, um meine schriftstellerische Aufgabe einfacher zu machen.
Maria arbeitet bei einer lokalen Zeitung, und jeden Morgen läuft sie zu der Tram, die sie zur Arbeit bringt. Als ich dem Geräusch der Toilettenspülung
lauschte, dachte ich, dass sie weit weniger Probleme hatte ihre Eingeweide zu entleeren als ich es beim Schreiben dieses Romans hatte – sozusagen den Honig für den Topf auszuscheiden. Augenscheinlich ist das Letztere
schwieriger schon alleine wegen des qualitativen Unterschiedes zwischen den beiden Substanzen. Trotzdem sind unsere Beweggründe - ihre um ihre Eingeweide zu entleeren und meine um diesen Roman zu schreiben –
absolut dieselben: Um uns selbst zu erleichtern.
Die Vordertür des Apartment-Gebäudes wurde zugeschlagen und Maria lief zur Trambahn-Haltestelle. Warum scheint sie sich immer in solcher Eile zu befinden, fragte ich
mich. Vielleicht will sie unbewusst versuchen, dem Geräusch der Toilettenschüssel zu entfliehen, indem sie diese geschäftsmäßige, eilige Erscheinung annimmt.
Maria wartete ungeduldig auf die Tram. Sie dachte schon
über ihre Arbeit nach, aber ein gewisses Unbehagen blieb, ein leichter Makel an ihrer üblichen Morgen-Stimmung. Ihr kam plötzlich eine Erinnerung an das Mitarbeiter-Gespräch letzte Woche; der Mann, der sie
befragte, starrte die ganze Zeit über auf ihren Magen. Hatte sie irgendwelche Fehler gemacht? Sie konnte sich keine vorstellen. Nein, das Gespräch war definitiv nicht der Grund für ihr Unbehagen an diesem Morgen. Sie
war nur um ihre Karriere bemüht. Sie dachte, dass wahrscheinlich alle wirklich gereiften und erwachsenen Leute ernst sind und sich Gedanken über die Dinge machen. Sie runzelte die Stirn und schaute sich um in der
Hoffnung, anderer Leute reife und bekümmerte Gesichter zu sehen.
Aber da lag sie falsch. Der wahre Grund für ihr Unbehagen war, dass sie in ihrer Eile das Haus verlassen musste, während die Toilettenspülung noch
rauschte. Dieses Geräusch drang durch die Vordertür und stellte die unsaubere Verbindung her zwischen der kindlichen, spontanen Welt der Exkremente und der Toilettenspülung und der schweren, ernsten und reifen Welt
bekümmerter Gesichter und Trambahn-Haltestellen. Unbeabsichtigte und unerwünschte Verbindungen zwischen Welten, die weit voneinander entfernt bleiben sollten, machen das aus, was unser Leben ausfüllt und unsere
Gesichter bekümmert.
Kapitel II: Handlungen
In 1968 fielen russische Panzer in Prag ein und niemand konnte es verhindern. Dass ich selbst nicht viel gegen die russischen Panzer tun
konnte, machte mir zu dem Zeitpunkt die wenigsten Sorgen. Aber kurz darauf wurde mir bewusst, dass ich tatsächlich gar nichts mehr von Bedeutung tun konnte. Deshalb musste ich die Tschechoslowakei verlassen und zu neuen
Ufern aufbrechen. Sie wissen das aber wahrscheinlich schon von der Rückseite dieses Buches; trotzdem wollte ich es Ihnen mitteilen. Ich bin ja trotz allem der Autor und ich kann alles schreiben wozu ich Lust habe.
Die Fähigkeit frei zu handeln ist sehr wichtig für ein menschliches Wesen. Derek zum Beispiel dachte, dass jeder Tag mit irgendeiner Entscheidung beginnen müsse. Er lag den ganzen Tag in seinem Bett und genoss die
Qual der Wahl. Seine Blase und sein Penis schmerzten schon vom Bedürfnis zu urinieren; trotzdem erlaubte er sich als freie Willensentscheidung nicht, sich zu erleichtern. Er wollte die Konzentration nicht verlieren, die
er benötigte, um die Bedeutung seines Lebens zu verstehen. Und für Derek bestand das Problem in der folgenden Frage: Sollte er seine Mutter anrufen und um mehr Geld bitten oder nicht? Er war pleite; sein Geld reichte
noch für eine Woche und das war´s. Seit seinem unglücklichen Zeitungs-Interview, welches bestimmte Vertreter der Regierung als politische Äußerung auffassten, sah er sich von Geheimdienstlern verfolgt. Überall wo er
sich um eine Stelle bewarb, bekam er diese auch. Aber dann kamen die Geheimdienstler und am nächsten Tag wurde er entlassen. So wurde es damals in Prag gehandhabt (vergessen Sie nicht die russischen Panzer!).
Dereks
Mutter lebte alleine am anderen Ende des Landes. Sie betrachtete ihn immer noch als kleinen Jungen. Derek besuchte sie fast nie, weil er es nicht ertrug, wenn sie ihn wie ein kleines Kind behandelte. Sie wollte immer,
dass er sich abends um neun Uhr zu Bett legte, und wenn er dies ablehnte begann sie, ihm Gute-Nacht-Geschichten zu erzählen. Sie bestand darauf dass er alles aß, was sie für ihn kochte, mit der Gewissheit, dass er
andernfalls nie ein guter Junge würde. Ihre Augen, die von dieser Gewissheit blau geworden waren, verfolgten ihn sein ganzes Leben lang.
So sehr Derek es auch hasste, sie zu besuchen, hatte er sie doch schon zwei Mal
um Geld bitten müssen. Beim ersten Mal sagte er, dass er in einen Film gehen wollte, beim zweiten Mal, dass er das Geld benötigte, um Eis zu kaufen. Nachdem sie seine Stimme vor Tränen zittern hörte, nahm sie eine
gütig tadelnde Erscheinung an und stimmte zu, ihm Geld zuzuschicken. Tränen waren Dereks effektivste Waffe gegenüber seiner Mutter. Seine immer ernst gemeinten Tränen brachen den Eindruck der strengen,
anspruchsvollen Mutter und wechselten ihn zu einem weichen, einhüllenden und annehmenden Eindruck. Bei diesen Gelegenheiten konnte er beinahe fühlen, wie ihn die Brüste seiner Mutter umschlossen wie bei einem Baby.
Derek konnte seiner Mutter natürlich nicht erzählen, dass er das Geld hauptsächlich zur Unterstützung seiner Geliebten benötigte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er drei davon, die alle älter waren als er. Er schien ständig
Aufmerksamkeit und Trost zu benötigen, und die Frauen gaben ihm in mütterlichen Gefühlen schwelgend immer den Trost, den er verlangte. Wenn die weichen Massen ihrer hängenden Brüste ihn umgaben, hatte er keine Wünsche
mehr. Er vergaß augenblicklich die Probleme seines verwickelten Lebens. Trotzdem waren die Frauen immer misstrauisch bezüglich seiner Treue, so dass er im Gegenzug den Anschein von Loyalität ihnen gegenüber erwecken
musste. Um sie zufrieden zu halten, musste er Nachtschichten erfinden (für seine Tages-Geliebte) und Geschäftsreisen (für seine Nacht-Geliebte). Sein Gesicht schien immer bekümmert und er sah irgendwie schlecht
aus.
Es gibt keinen Zweifel, dass Derek aus freier Willensentscheidung soviele Probleme ertrug. Tatsächlich hatte er entschieden, dass er zweimal am Tag Sex haben müsse um die Bedürfnisse seines Körpers zu
befriedigen. Jedoch konnte sein Körper nicht mit der physischen Belastung, so oft Sex zu haben, Schritt halten. Er fühlte sich die ganze Zeit über ziemlich müde. Diese Erschöpfung ignorierte er und sagte sich,
dass die Befriedigung der Bedürfnisse seines Körpers weit wichtiger seien als die physische Bequemlichkeit; außerdem sei diese Müdigkeit sehr angenehm.
Aber, wie ich sehr wohl weiß, war der wahre
Grund dafür, dass er sich mit seinen drei Geliebten abgab, die Tatsache, dass er ein Frauenheld war. Ich bin selbst ein Frauenheld und verstehe Derek daher sehr gut.
Kapitel III: Nichts
Tja, ich hatte nichts, worüber ich in diesem Kapitel schreiben könnte. Ich wollte nur dem Buch ein Kapitel mehr hinzufügen, damit es ein wenig länger wird. Dieses wird das “Buch über Nichts” genannt; daher erscheint es
nicht anders als logisch, dass wenigstens ein Kapitel auch nichts enthält. Sie sehen, ich folge nur dem gesunden Menschenverstand. Wir folgen alle dem gesunden Menschenverstand, wenn es uns in den Kram passt.
Nichts
spielt eine prominente Rolle in unseren Leben. Nichts ist uns wichtiger als Sex oder Bewegungen in den Eingeweiden. Das ist der Grund, warum ich Nichts in dieses letzte Kapitel stecke: Nichts hat mehr Gewicht. Daher
sollte von nun an Nichts unsere Aufmerksamkeit beschäftigen.
Als ich über Nichts nachdachte, beschloss ich, einem weiteren Charakter dieses Buches etwas ziemlich Unerfreuliches passieren zu lassen (dem ich
bisher noch keinen Namen gab). Was würde das sein? ... Ja! Ich werde sein ganzes Leben lang Nichts mit ihm passieren lassen. Sein Leben wird also tatsächlich unerfreulich sein. Es wird für mich schwierig werden, das
Leben der Person bis in die Einzelheiten zu beschreiben; aber ist das nicht mein schweres Schriftsteller-Schicksal? Ich bin begierig, ein solches Projekt anzugehen in der Hoffnung, mein Selbstvertrauen wieder
herzustellen.
Ich habe jedenfalls die Befürchtung, dass ich eine Menge über diesen namenlosen Burschen schreiben werden muss, nur um Ihnen eine Vorstellung darüber zu geben, wie sein Leben ist (und ich habe mir noch
nicht einmal einen Namen für ihn überlegt)... Aber, lesen Sie weiter: Mein nächster Roman wird sich vollständig diesem vielversprechenden Thema widmen.
Ende
(Geschrieben von Serge Winitzki
08.10.95, Letzte Überarbeitung: 17.6.97, Übersetzung Stephan Müller: 11.7.00)