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Milan Kunderas BuchempfehlungMilan Kundera
Mein Jahrhundertbuch ist...

"Der Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil  Von Milan Kundera

IClick & Buy: Musil n der Geschichte des Romans gibt es kein Werk, in dem das Denken einen solchen Raum einnimmt. Daher auch die spöttischen Bemerkungen, Musils Intelligenz sei größer als seine schriftstellerische Begabung. Diese Dummheit kann man mit einem Umkehrschluß widerlegen: Seine Essays, obwohl vor Intelligenz funkelnd, sind nicht mehr von großem Interesse. Musil ist nur als Romancier ein großer Denker. Sein Denken in Der Mann ohne Eigenschaften ist untrennbar mit den Figuren, mit ihren Situationen verbunden; es ist kein polyhistorisches Denken, das Streifzüge durch verschiedene Bereiche der Wissenschaft unternimmt und so den Roman schwerfällig machen würde; es konzentriert sich auf den existentiellen Aspekt der Realität; es ist ein spezifisch romanhaftes Denken: Es enthüllt das, was einzig der Roman enthüllen kann.

Bei Romanen mit der üblichen Struktur verspüre ich immer eine mißliche ästhetische Ungleichheit zwischen dem, was wesentlich ist (große Szenen, in denen Menschen sich öffnen), und dem, was im Dienste des Wesentlichen steht (Informationen zu den Figuren, erklärende Episoden, Beschreibungen der Zeit und des Ortes et cetera). In der Malerei gab es eine ebensolche Ungleichheit zwischen dem, was vorn, und dem, was hinten ist, dem, was mehr, und dem, was weniger Aufmerksamkeit erregt (die Figur - das Drumherum). Diesen ästhetischen Bruch haben die Kubisten beseitigt: Die dritte Dimension ist aus ihren Bildern verschwunden, und alles befindet sich im Vordergrund. Im Mann ohne Eigenschaften hat Musil die gleiche strukturelle Revolution erreicht. Hier ist alles wesentlich, weil alles Reflexion ist: Kakanien ist keine Kulisse, die beschrieben wird (wie Paris bei Balzac, wie Davos bei Thomas Mann), sondern ein Thema, über das meditiert wird. Das Denken wird dem Leser nicht am Ende des Buchs als eine "Wahrheit" beschert; analytisch, phänomenologisch ist es ständig präsent; es erhellt ebenso die peinliche sexuelle Konfrontation zwischen Ulrich und Gerda wie einige Seiten weiter die Demonstration unter den Fenstern des Grafen Leinsdorf. Wenn ich zu diesem Buch greife, schlage ich es immer aufs Geratewohl irgendwo auf, ohne mich um das Vorangehende und das Folgende zu kümmern; jeder Abschnitt hat seinen Wert an sich, seine eigene überraschende Weisheit.

Seit Balzac ist die menschliche Existenz nicht ohne ihre historischen Wurzeln verständlich. Mit seiner Erforschung der Figuren und ihrer Situationen stellt Musil eine existentielle Diagnose seines Jahrhunderts. Tatsächlich ist in seinem Kakanien schon alles da: die Herrschaft der Technik, die niemand beherrscht und die den Menschen zu statistischen Zahlen reduziert hat (mit diesem Thema beginnt der Roman); die Geschwindigkeit als höchster Wert; die allgegenwärtige Bürokratie, die das Wesen der Existenz verwandelt (das Musil und Kafka gemeinsame große Thema); die romantische Empfindsamkeit, ein hartnäckiges Erbe des vorigen Jahrhunderts (die unvergeßliche Beschreibung der musikalischen Bewegtheit des Ehepaars Walter!) und ihre Verkitschung; die überspannte Sympathie für Verbrecher als mystischer Ausdruck der Religion der Menschenrechte (Clarissens leidenschaftliches Interesse für Moosbrugger); der Kinderkult, der die Kälte des technischen Zeitalters mit seinem stupiden Lächeln anstrahlt (Hans Sepp, ein Faschist avant la lettre, laut dessen Programm es gilt, "das Kind in uns" zu entwickeln); et cetera et cetera.

Romane, deren Modernismus in einem Verzicht besteht, habe ich nie gemocht: dem Verzicht auf Personen, auf die Verwicklung, die Fabel, die Psychologie, auf Ideen et cetera (Modernismus als Rückzug auf ein immer enger begrenztes Gebiet!). Musil hat die umgekehrte Richtung eingeschlagen: Er hat den Bereich der Erkenntnis im Roman erweitert und sein Buch zu einer intellektuellen Synthese gemacht, die ich in keinem philosophischen oder wissenschaftlichen Werk unseres Jahrhunderts gefunden habe. Er hat die Unermesslichkeit dessen entdeckt, was einzig der Roman enthüllen kann.
Aus dem Französischen von Uli Aumüller, veröffentlicht in “Die Zeit”, 1999.

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