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Der Ästhet und der Märtyrer - Eine Polemik zwischen Milan Kundera und Václav Havel 1968
Von Herbert Birchler
Der Romancier Milan Kundera und der Dramatiker Vaclav Havel gelten im Westen gleichermassen als Kämpfer gegen den Totalitarismus realsozialistischer
Prägung. Doch die Dinge liegen nicht so einfach, wie ein erbitterter Disput nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Truppen 1968 beweist.
Im Dezember 1968 veröffentlicht
Milan Kundera im bekannten tschechischen Intellektuellenforum «Literámi listy» einen Artikel unter dem Titel «Tschechisches Los». Darin lobt der Romancier sein Volk für dessen Verhalten während des Prager Frühlings und
der nachfolgenden sowjetischen Invasion. Dafür sei den Tschechoslowaken in der internationalen Staatengemeinschaft für kurze Zeit sogar eine Spitzenreiterrolle zugefallen, indem sie der ganzen Welt gezeigt hätten, was
für «unermessliche demokratische Möglichkeiten in der Ordnung des sozialistischen Gesellschaftsprojektes» verborgen lägen. Kundera behauptet, dass Volk und Land gestärkt aus den Ereignissen des August hervorgegangen
seien. Keinesfalls habe so etwas stattgefunden, was als nationale Katastrophe bezeichnet werden könnte. Errungenschaften wie Pressefreiheit oder allgemeine Solidarität bestünden nach wie vor, und in der gesamten
Bevölkerung, vor allem auch unter der Jugend, herrsche eine «enorme Hoffnung für die Zukunft».
Dies alles habe man, so Kundera weiter, dem kritischen Geist der Tschechen zu verdanken, der sich seit der
nationalen Wiedergeburt im 19. Jahrhundert durch Antiromantizismus, Antiheroismus und Sinn für Humor ausgezeichnet habe und der als nationales Charakteristikum innerhalb der historischen Sendung kleiner Völker im
Widerstand gegen die politisch und kulturell sich imperialistisch gebärdenden Grossmächte zu verstehen sei. Diesen «wirklichen» tschechischen Kritizismus gelte es nun aber, am Ende eines so bedeutsamen und turbulenten
Jahres, gegen einen neuen, falschen, pessimistischen, ja «degenerierten» Kritizismus zu verteidigen, der nörgelnd in allem nur das Schlechte sehe, nicht mehr rational argumentiere, sondern lediglich aus «schlechter
Laune» oder irgendwelchen «Psychosen» heraus das trotz allem Positive bemängle.
HAVELS REPLIK
Es dauert nicht lange, und es meldet sich einer dieser ewig Misstrauischen und immer Krittelnden zu
Wort. Man spürt in jedem seiner bisweilen umständlichen, um Klarheit ringenden und nicht selten redundanten Sätze die Wut und die Verwundung, die den Verfasser der Replik sogar dazu bringen, bisweilen die Person
Kunderas mit spitzen und ironischen Bemerkungen direkt ins Visier zu nehmen. Stilistisch fällt Václav Havels Artikel «Tschechisches Los?», der im Februar 1969 in der Zeitschrift «Tvár» erscheint, gegenüber dem eleganten
und glasklar formulierten Essay Kunderas deutlich ab, wofür sich der spätere Dissident denn auch ausdrücklich schämt.
Havel wirft dem «leicht skeptischen intellektuellen Weltbürger» Kundera
«pseudokritischen Illusionismus» und «provinziellen Messianismus» vor, womit dieser, sich selbst und andere betrügend, das Volk einlullen und von der tagtäglichen, mühevollen und in einem totalitären Staatswesen auch
nicht ungefährlichen politischen Tätigkeit abhalten wolle. Mit dem Lob eines bereits der Vergangenheit angehörenden tapferen Verhaltens lenke Kundera von den Problemen der Gegenwart ab und verkehre den von ihm so
hervorgehobenen «wahren» Kritizismus ins genaue Gegenteil. Aus den wirklich kritischen Eigenschaften einer «aktiven Heimatliebe der ursprünglichen und deshalb offenherzigen Tat» werde die illusionäre, weil abwartende
und komfortable Haltung einer «passiven Heimatliebe der abgeschlossenen Erinnerung», die «kluge Ex-post-Bewertungen» ermögliche.
NATIONALES FATUM
Zwar seien bis jetzt weder die Pfadfinder aufgelöst noch
jemand wegen seiner Meinung eingesperrt worden, nichtsdestoweniger sei Kunderas Behauptung einer unbeschädigten Fortdauer der Reformpolitik des Prager Frühlings falsch, konkretisiert Havel seine Ausführungen. Unter
anderem sei es eine Tatsache, dass ehemalige stalinistische Hardliner bereits wieder Schlüsselpositionen an der Macht einnähmen. Die abstrakte, ja «kitschige Vorstellung» eines nationalen Fatums, die lediglich auf das
Eigenlob einer intelligenten, aber zwischen die Mühlsteine dummer, böser und mächtiger Nachbarn geratenen Kleinnation hinauslaufe, lähme als demagogische Selbsttäuschung ein Volk entschieden mehr als die engagierte,
manchmal auch nervende und rücksichtslose Bereitschaft, auf aktuelle Begebenheiten zu reagieren, die nicht die Bestätigung angeblicher nationaler Vorzüge, sondern die Verteidigung allgemeinmenschlicher Werte im Auge
habe.
Möglicherweise schwingt in Havels wütender Reaktion etwas mit, was über den eigentlichen Anlass hinausweist. Seine offensichtlich persönliche Aversion geht vermutlich bereits auf einen Essay Kunderas aus
den fünfziger Jahren zurück, in dem dieser realsozialistische Literaturtheorie in reinster Form betreibt und Gedichte über Stalins Tod und sowjetische Schullektüre über den Klee lobt. Doch soll hier weder ausführlich in
juvenilen Vergangenheiten gewühlt werden, noch soll es um eine abschliessende Beurteilung oder gar eine Verurteilung gehen, wer im einzelnen nun im Recht war oder im Verlauf der Geschichte recht gekriegt hat, sondern
der Streit der beiden Autoren soll den Ausgangspunkt bilden, um ihrer Haltung zu Geschichte und Politik auf die Spur zu kommen.
Die unzimperliche öffentliche Polemik findet ihren Abschluss in Kunderas Antwort
«Radikalismus und Exhibitionismus» von 1969. Kundera verteidigt zunächst sein Konzept eines nationalen Schicksals als Folge der geographischen Situierung und des geschichtlichen Werdegangs eines Staates und verweist in
diesem Zusammenhang - was im Hinblick auf Äusserungen Kunderas auch in literaturtheoretischen Zusammenhängen nicht erstaunt - auf die Aussage eines Strukturalisten, nämlich auf Roman Jakobson. Noch einmal betont er die
internationale Bedeutung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz vor allem auch für die nichtstalinistische Linke der westlichen Länder, indem diese nach dem Vorbild der Tschechoslowaken wichtige Anregungen zu einer
alternativen Freiheit erhalten hätten, zu einer Freiheit im Zeichen des Sozialismus ohne die «Regentschaft kommerzieller Interessen und eines kommerziellen Geschmacks». Diese beherrschten die ganze sogenannt «normale»
zivilisierte Welt jenseits der kommunistischen Hemisphäre, was Havel nicht hindere, seine politischen Vorstellungen danach auszurichten.
PERSÖNLICHE ABRECHNUNG
Neben der sachlichen Diskussion, bei der
sich Kundera um Redlichkeit bemüht, besteht seine Antwort jedoch zu mehr als der Hälfte aus einer persönlichen Abrechnung mit Havel und seinen Gesinnungsgenossen. Wohl in der Meinung, es mit gleicher Münze
zurückzuzahlen, will der Romancier die wahren Beweggründe der notorischen Nörgler und Schwarzseher aufdecken. Mit dem Hinweis auf dessen bürgerliche Herkunft konstatiert Kundera bei Havel so etwas wie familiär
präfigurierte Scheuklappen, die ihm a priori nicht erlaubten, anders als mit antikommunistischen Reflexen auch auf allenfalls positive Entwicklungen innerhalb des sozialistischen Systems zu reagieren. Havel sei ein
Gefangener seiner eigenen Ideologie, deswegen halte er eine Moralpredigt, anstatt wirklich zu argumentieren.
Wie schon im ersten Artikel greift Kundera zu psychopathologisch inspiriertem Vokabular: Havel und
seine Mitstreiter, Opfer eines langjährigen moralischen Krankheitszustandes der tschechischen Gesellschaft, nützten die Verhältnisse aus, um sich selber im eitlen Wettbewerb um öffentliche Anerkennung zu profilieren.
Derjenige trage den Sieg davon, der sich in Worten, die andauernd nach Taten schrien, am radikalsten und risikofreudigsten gebe: Havel als der momentane Punktesieger im Spiel des moralischen Exhibitionismus.
In
seinem Essay «Heidegger, Kundera und Dickens» verleiht Richard Rorty dem tschechischen Autor die Rolle eines Gegenspielers von Heidegger. Kundera wird bei ihm zum Vertreter einer «antitheoretischen», der spezifischen
Weisheit des Romans verpflichteten Texttradition, die den «asketischen Priester» der Philosophie, der «dem Zeitlichen und Zufälligen zu entkommen» versucht, radikal verneint und auf diese Weise die Geistesgeschichte des
christlichen Abendlandes wahrheitsgetreuer zum Ausdruck zu bringen vermag. Ob diese Behauptung in ihrer radikalen Entgegensetzung zweier Gattungen der «lettres» über die reine Provokation hinausgeht, kann hier nicht
weiter diskutiert werden. In unserem Zusammenhang interessiert mehr eine andere Feststellung Rortys, nämlich, dass es Kundera in bezug auf die Geschichte darauf ankomme, «sie in Gang zu halten, sich in sie
hineinzustürzen», während bei Heidegger das Bestreben vorherrsche, «sowohl die Geschichte [zu] erlösen als auch die Vergangenheit einzukapseln». In Wahrheit jedoch steht Kundera dem asketischen Priester Heidegger
entschieden näher, als es Rortys streng dichotome Gegenüberstellung zulässt, sowohl in bezug auf die Art von Geschichtsbetrachtung im Sinn einer ostentativ verkündeten Loslösung vom kontingenten Faktum als etwa auch in
bezug auf die Haltung gegenüber der eigenen (Lebens-)Geschichte.
EXISTENZERFORSCHUNG
In «Die Kunst des Romans» bezeichnet Kundera den Romanschriftsteller als «Erforscher der Existenz», der historische
Gegebenheiten lediglich als Folie benütze, auf der die Romanfiguren grundlegende Situationen erleben, die sich wiederum auf allgemeine Begriffe wie Leichtigkeit, Schwere, Körper, Seele, Sein, Tod usw. zurückführen
lassen. Die Romanfiguren stehen für bestimmte «existentielle Codes», die sie vom Autor als Rahmen zugewiesen bekommen, innerhalb dessen sie aber auch eine Eigendynamik entfalten können. Dieses Verfahren widerspiegelt
die von Kundera häufig bekundete Auffassung, dass dem modernen Menschen die Möglichkeit des persönlichen Eingriffs in die Geschichte verwehrt sei. Diese geistere nur noch in den Köpfen einiger Unbeirrter als Illusion
herum und manifestiere sich in den besagten «ewigen Improvisationen», die die grossen Zusammenhänge ausser acht liessen. Wie Romanfiguren sind auch wir Normalbürger in Kunderas Augen Gefangene eines strukturalistisch
inspirierten Fatums, eines Systems von Grundsituationen, die zwar irgendwie menschengeschaffen, aber nicht mehr steuerbar sind. Die Menschen sind demnach von der Geschichte befreit, die sich irgendwo weit oben über
ihren Köpfen vollzieht. In diesem Licht gesehen, ist übrigens auch Rortys Charakterisierung der Romane Kunderas als Ausdruck eines «demokratischen Utopia» nicht ohne weiteres nachvollziehbar.
Doch vielleicht
meint Rorty noch etwas anderes mit dem «Sich-Hineinstürzen» in die Geschichte: Kunderas Romane, von «Der Scherz» Anfang der sechziger bis zu «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» in den achtziger Jahren, sind von
wenigen Ausnahmen abgesehen bedingt von den Verhältnissen in der totalitären Tschechoslowakei. Diese bilden nicht nur die Ausgangspunkte oder tragenden Elemente der Erzählung, wie etwa Ludvíks Kartengruss oder die
Emigration von Tomas und Teresa, das totalitäre Regime wird auch in seinen Auswirkungen auf den Alltag ausgeleuchtet.
Beispielsweise in «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» die Verstrickung Teresas
in Machenschaften des Geheimdienstes oder in der Szene, wo Tomas' Sohn den aus dem Ausland zurückgekehrten Vater um eine Unterschrift für eine Petition zugunsten systemkritischer Gefangener bittet. Václav Havel erkennt
in Tomas' redegewandter Verweigerung die typische Argumentationsweise derer, die solche Papiere auch in Wirklichkeit nicht unterschreiben wollten, und glaubt auch, dass Kunderas persönliche Meinung wiedergegeben sei.
Andersherum könnte man dem Eindruck verfallen, Kundera habe an Havel gedacht, wenn er die Sprechweise von Tomas' politisch aktivem Sohn beschreibt: «Nein, es war kein Stottern, es war eher ein leichtes Stocken, das den
Fluss seiner Rede etwas hemmte, so dass jedes ausgesprochene Wort wider seinen Willen betont und hervorgehoben wirkte.» Stürzt sich Kundera nun wirklich in die Geschichte, dann kaum im Sinn eines «In-Gang-Haltens»,
sondern eher in der Art einer rückbesinnenden Verarbeitung der Vergangenheit.
THEORIE - UND PRAXIS
Zwischen Milan Kunderas selbstinterpretierender Theorie und schriftstellernder Praxis herrscht eine
Diskrepanz, die sich auf der biographischen Ebene wiederholt. Die zwar gewünschte, de facto aber nicht erreichte Trennung von geschichtlichen Tatsachen und dem werkimmanenten, hermetisch abgeschlossenen und
ausschliesslich dem autonomen Kunstwerk verpflichteten Romandiskurs kehrt in Kunderas rigoros geforderter Trennung von Leben und Werk, von Roman und Biographie wieder. Kundera als Person und Autor will absoluter Herr
über die eigene Geschichte sein, während die allgemeine Geschichte dem Zugriff des Individuums entzogen ist. Ein Beispiel dafür ist Kunderas strikte Ablehnung, Auskünfte über sein Leben zu geben. Solches ist einerseits
verständlich auf Grund der «grossen Lektion» durch die «persönliche Erfahrung mit dem Kommunismus», wie Havel sich ausdrückt, anderseits durch das ausufernde Medieninteresse nach der unsäglichen Verfilmung von «Die
unerträgliche Leichtigkeit des Seins». Seit über fünfzehn Jahren herrscht bei Milan Kundera Interview-Sperre.
Auch über seine Werke will Kundera die Kontrolle behalten, indem er eine regelrechte Indexierung nach
dem Vorbild grosser Komponisten vornimmt, die ihre Opera durchnumerieren und diese als die einzig gültigen deklarieren. Im Beiwort zur ersten tschechischen Ausgabe des «Scherz» nach 1989 bestimmt Kundera diejenigen
seiner Texte, die weder zur Interpretation des Autors beigezogen noch den «Nachlassgeiern» überlassen werden dürfen: «Zu dem, was mein Werk genannt werden könnte, gehören meiner Meinung nach nicht: 1. unreife (juvenile)
Texte, 2. misslungene Texte, 3. Gelegenheitstexte. [. . .] Das einzige, woran mir etwas liegt, das einzige, dessen Publikation ich erlaube, sind meine Romane.» Obwohl Kundera für solche Massnahmen gute und legitime
Gründe vorbringt, denen er auch ein ganzes Buch («Verratene Vermächtnisse») gewidmet hat, worin er das ganze Leid vom verletzten Autor-Willen in der modernen Literaturgeschichte schildert, kommt man nicht umhin, einen
starken Willen zur Konstruktion auch im Umgang mit der eigenen Geschichte festzustellen. Dass das Kunderas Sache ist und keinerlei Anlass zu Moralisierungen sein soll, ist selbstverständlich. Doch das Quasi-Verbot, auch
nichtautorisierte Schriften, die mit dem Namen Kundera versehen sind, genauer anzuschauen, kommt einer Zensurmassnahme gleich, die eine Übertretung geradezu herausfordert.
In Havels literarischem Schaffen
ist der historische Hintergrund, im Unterschied zu den meisten Romanen Kunderas, auf einem abstrakteren Niveau auszumachen, gleichwohl aber immer präsent. Sowohl in den früheren Stücken wie «Gartenfest» oder
«Benachrichtigung» als auch in den Einaktern, die in den siebziger Jahren entstanden sind, versucht Havel, phänomenologisch und sprachkritisch zugleich die Atmosphäre und die Befindlichkeiten des Lebens im
Totalitarismus einzufangen. So zieht er etwa die allumfassende und von gewissen Individuen strukturell bereits verinnerlichte politische Phraseologie in der Art des absurden Theaters durch iteratives Variieren ins
Verzweifelt-Lächerliche. Havels Stücke lassen sich dadurch auch als Parabeln lesen, weil seine schemenhafte Figuren Chiffren für die «spezifisch moderne Erfahrung des Lebens am äussersten Rand der modernen
entmenschlichten Macht» sind («Politik und Gewissen»). Das trifft sicher zu, doch auch Havel bemüht sich, eigentlich unnötigerweise, um eine Enthistorisierung der eigenen Texte.
MENSCH UND GESELLSCHAFT
So
betont Havel beispielsweise im Vorwort zu einer deutschsprachigen Wiederaufführung von «Die Benachrichtigung» ausdrücklich, dass es «selbstverständlich kein Stück über die tschechoslowakische Geschichte» sei, sondern
eines «über den Menschen und die Gesellschaft überhaupt». Entstanden sei es jedoch, und mit diesem Zugeständnis unterscheidet sich Havels Selbstkommentar von demjenigen Kunderas, auf Grund von «Erfahrungen, die sein
Autor in dem Teil der Welt gemacht hat, in dem er geboren wurde und in dem zu leben ihm das Schicksal bestimmt hat». Und nicht nur ist der Ursprung des literarischen Werks für Havel in der historischen Wirklichkeit
verankert, sondern es wird auch dessen Rezeption durch sie definiert: Havel wünscht sich nämlich, dass dieses Stück irgendwann einmal aufhöre, für sein Land gültig zu sein.
Als Person in seinem
gesellschaftlichen und politischen Kontext fühlt Havel sich geradezuverpflichtet, seine spezifische Erfahrung «zu reflektieren, Zeugnis von ihr abzulegen und sie denen zu übergeben, die das Glück haben, sie nicht
durchmachen zu müssen» («Politik und Gewissen»). Auch das auf den ersten Blick machtlose Individuum, kümmert es sich wenigstens in seinem persönlichen Umfeld um vordergründig unscheinbare Dinge, kann mit der Zeit und im
Verbund mit möglichst vielen anderen politischen Habenichtsen das Fass einer bestimmten Machtkonstellation zum Überlaufen bringen. Diese Ansicht erscheint immer wieder in Havels Äusserungen, angedeutet bereits in seiner
Antwort auf Kunderas «Tschechisches Los», und ist am ausführlichsten dargelegt in der Schrift «Versuch, in der Wahrheit zu leben».
VON DER ZEIT GEPRÄGT
Die literarischen Werke sowohl Václav Havels als
auch Milan Kunderas, mögen sie noch so sehr ahistorische Ansprüche in den Vordergrund stellen, sind in ihrer spezifischen Prägung ohne die konkreten politischen und gesellschaftlichen Ereignisse ihres Herkunftslandes
nicht denkbar. Sie hatten einen entscheidenden Einfluss auf ihre Biographien, deren Stationen mehr oder weniger bekannt sind: des einen Aufstieg vom beachteten Dramatiker und ebenso beharrlichen wie leidgeprüften
Dissidenten zum im eigenen Land bereits nicht mehr so beliebten Staatspräsidenten und des anderen Werdegang vom angepassten Literaten zum kritischen Romancier und prominenten Emigranten und schliesslich zum schon etwas
verblassten Vertreter der Weltliteratur.
Kundera fordert zunächst, das geschichtliche Detail in die weniger schmerzhafte und überpersönliche Harm-Losigkeit des theoretischen Überblicks einzubetten, will es
aber später ausschliesslich in einer übergeordneten ästhetischen Konzeption aufheben. Havel versteht oder zumindest verstand sich als Anwalt des Einzelnen in einem erdrückenden und komplexen Hier und Jetzt, der von Fall
zu Fall auf ein bestimmtes ethisches Wertesystem zurückgreifen kann. Beide Positionen sind bereits in der öffentlichen Auseinandersetzung Ende der sechziger Jahre angelegt und während der Jahre danach immer klarer und
präziser ausformuliert worden. Quelle: Neue Zürcher Zeitung LITERATUR UND KUNST Samstag, 04.12.1999 Nr. 283 84
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